Des Versicherungskaisers neue Kleider

Versicherungen haben ein Problem: Ihre Produkte müssen sich am Verhalten der Masse orientieren. Was natürlich keine ideale Grundlage für eine gute Beziehung zu einem Kunden als Individuum ist. Und so redet manche Versicherung das Problem schön und verdreht es in der Werbung kurzerhand ins bare Gegenteil. Nichts sei individueller als sie, verspricht die Versicherung dann.

Versicherungen arbeiten mit Sterbetafeln, mit Statistiken und Wahrscheinlichkeiten. Keine andere Branche berechnet mein Verhalten akribischer. Keine andere Branche weiss genauer, wie gross meine Wahrscheinlichkeit ist, morgen ausgeraubt, von einem Feuer heimgesucht, in einen Unfall verwickelt zu werden, ernsthaft zu erkranken – oder gleich zu sterben. Das ist auch in Ordnung. Schliesslich ist es das Geschäft jeder Versicherung, ihr Risiko abzuwägen, die Prämien entsprechend anzupassen und am Ende des Jahres noch etwas daran zu verdienen.

Die Branche berechnet mit dem Taschenrechner auf drei Stellen hinter dem Komma genau, wie gross ihr eigenes Risiko beim Abschluss einer Versicherung ist.

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Die CSS verspricht: «Wir betrachten jeden Bauch individuell!»

Individualität ist das Gegenteil des Geschäfts einer Versicherung

Ausgerechnet Vertreter dieser Branche versprechen uns nun in ihrer Werbung, das bare Gegenteil zu tun, nämlich jeden Menschen persönlich zu betrachten?

Schmückt sich da nicht eine Versicherung mit imaginären Kleidern – und ist dabei so nackt wie der Kaiser im Märchen und wie die Bäuche in der CSS-Werbung? Dieser Versicherung neue Bäuche sollen hier ein wenig näher betrachtet werden.

Die CSS sagt, es gebe nicht den Kunden; der eine habe einen solchen Schnupfen, der andere einen anderen, der eine habe so einen Bauch, der andere einen anderen, jeder Mensch sei eben individuell. Das ist richtig.

Richtig ist aber auch, dass bei Vertragsabschluss die Individualität nur in eine Richtung verläuft: Ein Kunde kann keine (Zusatz-)Versicherung abschliessen, wenn er nicht in die Band- und Bauchbreite einer gewissen Norm passt. Leidet er zum Beispiel an einer bestimmten Augenkrankheit, kann er entweder gar keine Zusatzversicherung abschliessen – oder er muss in Kauf nehmen, dass jegliche Versicherungsdeckung einer zukünftigen Erkrankung, die auch nur im Entferntesten die Augen betrifft, von vornherein ausgeschlossen ist. In der Tat erweist sich damit die Versicherungslösung als sehr persönlich: als persönlicher Nachteil des Kunden. Aber vielleicht hat die CSS ja nicht das gemeint, als sie die Werbekampagne mit dem Slogan «Ganz persönlich» ins Leben rief.

Die Versicherung hört mir persönlich mit einem Online-Prämienrechner zu

Dann haben wir da noch die Generali. Sie lässt Menschen mit ihren Schicksalen und Erfahrungen zu Wort kommen. «Um zu verstehen, muss man zuhören», stellt ihre Werbekampagne fest. Auch hier wieder geht es um Individualität: Die Versicherung hebt hervor, wie vielfältig die Möglichkeiten seien, ein Leben zu führen. Und die Werbung impliziert, dass Generali einem Menschen zuhört, bevor sie ihm eine – selbstverständlich massgeschneiderte – Lösung anbietet.

Generali hört zu – und verkauft mir dann ganz unpersönlich eine Hausratsversicherung.

Generali hört zu – und verkauft mir dann ganz unpersönlich eine Hausratsversicherung. (Quelle: Generali.ch)

Was aber haben die persönlichen Geschichten, die diese Werbung erzählt, mit einer Versicherung zu tun? Die Verbindung scheint einzig in der Aussage zu bestehen, die der Texter oder die Texterin in der Unterzeile anklingen lässt: «Lebenssituationen sind vielfältig, unsere Lösungen auch.»

Da gibt es zum Beispiel den Film über einen jungen Mann, der von Geburt an beinahe gehörlos ist. Jonas Straumann ist als Musiker und Journalist tätig. Mit den vielen Instrumenten und dem Ton-Equipment kommt einiges an Hausrat zusammen.

Und hier also ist die Verbindung: Unmittelbar neben dem Videofenster kann ich mich im Browser über Hausratsversicherungen der Generali informieren – und gleich eine abschliessen. Erstaunlicherweise muss ich dafür nicht erst einen Zuhörer bei der Generali suchen. Der Online-Prämienrechner erledigt das menschlos und will einzig drei Dinge wissen: Wo wohne ich? Wie gross ist meine Wohnung? Ist mein Hausrat bescheiden oder luxuriös? Das war’s dann mit dem Zuhören. Der Prämienrechner spuckt mir – wie bei jeder anderen Versicherung auch – online eine Offerte aus. Auf den Rappen genau, ohne dass irgendjemand sich meine geradezu bemerkenswerte Lebensgeschichte angehört hätte.

Voilltext Generali Werbekampagne Werbetexte

Und ich habe keine Lust auf Unehrlichkeit.

Wenn Versicherungen den Kern ihres Geschäfts abstreiten

Lebenssituationen sind vielfältig, und es gibt nicht den Kunden. Aber den Versicherungen ist das grundsätzlich egal. Wie gesagt, das ist in Ordnung, weil ihr Geschäft auf den Wahrscheinlichkeiten des Verhaltens der Masse beruhen muss. Nicht in Ordnung ist, in der Werbung genau das Gegenteil dieser versicherungstechnischen Realität zu behaupten und damit schlicht den Kern des eigenen Geschäfts abzustreiten. Einer der Porträtierten, wir sehen ihn links lachen, sagt in der Generali-Werbung, er habe keine Lust auf schlechte Laune. Hier folgt eine Warnung des Bundesamts für Privatversicherungen: «Fakten verdrehende Werbung kann Ihre Laune verderben.»

Und so ruft irgendwann einer in der Menge dem Versicherungskaiser zu: «Guck mal, der ist ja nackt! Der schmückt sich mit Individualität, dabei stützt er sich doch bloss auf – jawohl, nackte Zahlen.» Die versicherte Masse lacht auf. Und ihre schlechte Laune ist so schnell verflogen wie ein Tag als der Bauch an dem Strand.

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